Donnerstag, 1. April 2010

Videospiele als Kunst

Obwohl ich damit den Fokus dieses Blogs zwischenzeitlich sehr stark verschiebe, folgt hiermit ein weiteres Mal ein Eintrag, der keine bitterböse Kritik an der Realität darstellt, sondern sogar zeigt, wie anspruchsvoll und begeisternd Dinge sein können, die man vielleicht voreilig mit dem negativ behafteten Ausdruck „Realitätsflucht“ brandmarken will.

Oha.

Ja.

Immerhin ist ein Blog ja auch eine persönliche Plattform, wo man der Menschheit mit allem auf den Geist gehen kann, was einen gerade so beschäftigt – Dass viele Blogger sich heutzutage genötigt sehen, persönlich die Aufgabe unzensierter, differenzierter Information und Berichterstattung wahrzunehmen, ist dabei natürlich unstrittig ein gewaltiges Armutszeugnis für unsere Medienlandschaft.
Aber ab und zu will ich doch auch einige andere Themen anschneiden.

Das mögen Kurzgeschichten oder andere literarische Ergüsse meiner selbst sein, persönliche Filmrezensionen meiner Lieblingswerke, Buchempfehlungen – oder wie in diesem Fall meine Gedanken zu einem Videospiel oder einer Serie von Spielen.

Nämlich...



Denn, um gleich mein Fazit in einem Satz vorweg zu nehmen: Für mich ist dieses Spiel eines der rar gesäten Beispiele, die den Anspruch von Videospielen auf die Bezeichnung „Kunst“ untermauern.

Deswegen will ich hier auch Dinge wie Grafik, Gameplay, Multiplayer und so fort, über die entsprechende Fachmagazine zur Genüge informieren, ausklammern und mich auf das für diesen Aspekt meiner Meinung nach Wesentliche konzentrieren.
Stil, Atmosphäre, Story.
Eine Warnung vorweg – ja, ich werde spoilern. Von vorne bis hinten, Aspekte der gesamten Story. Da ich mir der Tatsache bewusst bin, dass das Spiel mehrere Enden hat, sei hier auch gesagt – hier wird der „gute“ Weg geschildert, alle Little Sisters wurden gerettet, alle Nebenwidersacher verschont (bis auf Gilbert Alexander, für den der Tod meiner Meinung nach eine Erlösung war, wie er ja auch selbst formulierte).

Nun, ich muss zu Beginn zugeben, ich war mehr als skeptisch.
Als Videospieler, Leser, Filmliebhaber und was auch immer wird man nun einmal viel zu oft mit der Tatsache konfrontiert, dass Fortsetzungen von Meisterwerken in den allermeisten Fällen zwischen einer mittleren Enttäuschung (Indiana Jones 4) und einer gigantischen Katastrophe (s. Darko) schwanken.
Als ich also von der Fortsetzung zu Bioshock hörte – und ich hörte relativ spät davon und habe mich auch bis zum Kauf kaum darüber informiert – habe ich beinahe alles erwartet.
Am wenigsten aber, dass sie ihrem Vorgänger gerecht werden würde.
Oder ihn sogar übertreffen.
Allerdings hat sie genau das. Zumindest in derart vielen Aspekten, dass ich tatsächlich sagen kann, für mich persönlich ist sie insgesamt besser als der erste Teil.

Dass Bioshock verflucht viel Stil hat, dass sei jetzt mal als eine Art unbestreitbare Tatsache hier in den nicht vorhandenen Raum gestellt. Die in Verbindung mit Horrorelementen, Bewohnern, die vollkommen dem Wahnsinn verfallen sind und den allgegenwärtigen Zeichen von Tod, Zerstörung und Verwitterung geradezu grotesk wirkende Kulisse einer Stadt ganz im Art-Déco-Design ist etwas, was unter allen mir bekannten Videospielen einzigartig ist.
Wenn man sich an durchgedreht vor sich hin murmelnde Mütter heranschleicht, die mit dem Revolver sprechen, den sie in ihrem Kinderwagen versteckt haben wie mit ihrem Kind, wenn man im Dunkeln verborgen Bewohnern zuhört, die absurde, irgendwie komische und gleichzeitig verstörende Unterhaltungen führen, wenn man übel zugerichtete Leichen findet, die mit Blut ihre letzten Botschaften auf Wand oder Boden hinterlassen oder mit Diktiergeräten ihre letzten Worte aufgenommen haben, dann setzt sich – in beiden Spielen – wie ein Mosaik nach und nach das Bild einer Stadt zusammen, die als modernes Utopia gedacht war, tief unter dem Meeresspiegel, losgelöst von den makelbehafteten Unrechtsgesellschaften an der Oberfläche, die Freiheit und Wohlstand für alle ermöglichen sollte – und am Ende in einer Spirale aus Gier, Gewalt, Wahnsinn, und dem vollkommenen Mangel irgendeiner moralischen Beschränkung zugrunde ging.
Und das hat nicht nur Stil, das kreiert auch eine unheimlich dichte, fesselnde Atmosphäre, der man sich bis zur letzten Minute kaum entziehen kann.
Eine Atmosphäre, die über den gewöhnlichen Kick des Horrors und das Belohnungssystem in Videospielen (à la „Leg’ alles um, und du erfährst, wie es weitergeht/und dein Charakter wird stärker und besser.“) weit hinausgeht.
Nein, Bioshock konzentriert sich hier extrem auf das menschliche Drama. Einzelschicksale, die durch das Auffinden der überall verstreuten Audiotagebücher nach und nach zusammengesetzt werden und das Bild einer Gesellschaft wie auch der Individuen darin offenbaren, die von idealistischen Träumereien einer Utopie langsam, stückchenweise entrückt werden, an der Realität zerbrechen und in ihrer Kompromisslosigkeit immer tiefer sinken.
Das ist die Faszination, die Bioshock so großartig macht.

Aber kommen wir zum eigentlich Grandiosen, zur Triebfeder des Ganzen und dem Grund, warum dieses Spiel für mich Kunst ist – zur Story.
Für all jene hier, die es selbst nicht gespielt haben – und ich vermute, das werden die meisten sein – und sich nicht erst selbst informieren wollen, bevor sie überhaupt verstehen, was ich sage, hier eine kleine... große Zusammenfassung:

Im Angesicht wiederkehrender Weltkriege und brodelnder Konflikte sowie des empfundenen Unrechts an der Oberfläche entschließt sich ein Mann namens Andrew Ryan, den Versuch zu unternehmen, eine utopische Stadt zu gründen, eine Stadt, die sich nicht nur geistig, sondern auch physisch von allen anderen menschlichen Kulturen distanziert – eine Stadt auf dem Meeresgrund.



„Ich bin Andrew Ryan, und ich möchte Sie eines fragen: Steht einem Menschen nicht das zu, was er sich im Schweiße seines Angesichts erarbeitet?
Nein, sagt der Mann in Washington – Es gehört den Armen.
Nein, sagt der Mann im Vatikan – Es gehört Gott dem Allmächtigen.
Nein, sagt der Mann in Moskau – Es gehört allen.
Ich konnte keine dieser Antworten akzeptieren. Stattdessen entschied ich mich für etwas Anderes.
Für etwas Unmögliches.
Ich entschied mich für… Rapture.
Eine Stadt, in der der Künstler keine Zensur fürchten, der Wissenschaftler sich keiner engstirnigen Moral beugen muss, in der diejenigen, die zu Großem bestimmt sind, nicht durch die kleinen Lichter gebremst werden.
Wenn auch Sie im Schweiße ihres Angesichts für dies kämpfen, kann Rapture auch ihre Stadt werden!“


Und eine Zeit lang schien dieses ambitionierte Projekt trotz aller offensichtlichen Denkfehler („Auch in einem Utopia muss jemand die Toiletten schrubben.“) Früchte zu tragen, die Probleme hielten sich in Grenzen, Rapture florierte, wuchs, wurde reicher.
Bis man in einer bis dato unbekannten Tiefseeschneckenart eine Substanz fand, die alle wissenschaftlichen Standards über den Haufen warf - das sogenannte ADAM.
Ohne jetzt zu genau auf Einzelheiten einzugehen, gab diese Substanz der Wissenschaft sozusagen die Möglichkeit, die menschlichen Gene zu manipulieren, zu „verbessern“. Dinge wie Telekinese, das Verschießen von Feuerbällen, Blitze schleudern, all das wurde plötzlich Realität – dem Bestreben der Wissenschaft waren keine Grenzen gesetzt.
Moralische schon gar nicht.
Wobei das ADAM den genetischen Code der Menschen nur entsprechend umschrieb und ihnen diese Fähigkeiten gab – um sie regelmäßig einzusetzen, wurde eine zweite Substanz benötigt, die den gewaltigen Energiebedarf deckte – EVE (die biblische Symbolik sticht ins Auge).
Wiederum ein hervorragendes Abhängigkeitspotenzial für eine Wirtschaft, die sich keinerlei ethischen Begrenzungen zu unterwerfen hat.


Dieses Verändern des Gen-Codes und das Einsetzen dieser Fähigkeiten, das sogenannte Splicen, wurde in Rapture nach und nach zur Normalität, angetrieben von einer Wirtschafts- maschinerie, die die Bewohner mit geradezu zynisch wirkender Werbung bombardierte.
Dass regelmäßiges, übertriebenes Splicen – wie es sich ein gewaltiger Bevölkerungsteil Raptures angewöhnte - so wunderschöne Konsequenzen wie Abhängigkeit, mentale Instabilität, körperliche Missbildungen und Tod haben kann, erkannte man wieder einmal zu spät.
Und selbst dann bereitete das den Verantwortlichen nicht gerade schlaflose Nächte.
Das kommt einem bis zu diesem Punkt schon äußerst bekannt vor.
Auf mich wirkt das durchaus wie eine wenig verhohlene Kritik an realen Zuständen, nur eben in einer fiktiven Stadt bis zur letzten Konsequenz fortgeführt.

Als die Öffentlichkeit dann nämlich langsam zu spüren begann, dass die ADAM-produktion, die ja vom Vorkommen der alles auslösenden Schneckenart abhängig war, nicht mehr mit der immensen Nachfrage mithalten konnte, beschleunigte sich der tiefe Fall der selbstvergessenen Gesellschaft Raptures zusehends.
Die großen Köpfe der Stadt, in deren Händen alle Fäden zusammenliefen, isolierten sich, stellten sich gegeneinander, verfolgten immer mehr ihre eigenen, egoistischen, idealistischen oder machtgierigen Ziele und hetzten die gesamte Bevölkerung gegeneinander auf, bis Rapture im Verlauf eines Quasi-Bürgerkrieges den Zustand annahm, mit dem man als Spieler letztendlich konfrontiert wird.
Und an dieser Stelle kommt etwas ins Spiel, das einen zentralen Aspekt der Thematik von Bioshock 1 und 2 bildet und zugleich die ultimative Perversion von wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen darstellt, denen keinerlei ethische Grenzen mehr bewusst sind.



Little Sisters und Big Daddies.

Little Sisters sind zunächst einmal kleine Mädchen. Zumindest optisch. Irgendwie.
Genauer gesagt sind sie das Werkzeug der Wirtschaftselite, um die ADAM-produktion in einer vom Krieg verwüsteten Stadt wenigstens notdürftig am Laufen zu halten. Man arbeitet zusammen mit Waisenhäusern, holt sich von dort kleine Mädchen und befähigt sie, ADAM zu ernten, indem man ihnen die besagten Schnecken in die Magenschleimhaut transplantiert. Dann drückt man ihnen gewissermaßen Spritzen in die Hand, unterzieht sie einer Gehirnwäsche zur Verhaltensmodifikation und prägt ihnen ein, dass alle braven kleinen Mädchen ADAM sammeln, von der einzigen Quelle, die in Rapture niemals zu versiegen scheint.

Aus den Leichen von Splicern.

Warum übrigens nur Mädchen, kann man sich an dieser Stelle fragen. Nun, aufgrund ganz simpler wirtschaftlicher Überlegungen.
Man braucht in den Wissenschaftseinrichtungen und Unterkünften keine getrennten Toiletten für zwei Geschlechter.

Also machen sie sich mit kindlicher Freude daran, frischen Leichen mit ihren überdimensionierten Spritzen das Blut auszusagen und es zu trinken, damit die Schnecken in ihrer Magenschleimhaut das ADAM herausfiltern können.
Und als wäre das alles zusammengenommen noch nicht makaber genug, scheinen die lebenden Splicer in der Umgebung es instinktiv wahrzunehmen, wenn eine Little Sister in der Nähe ist und sich an die Ernte macht.
Und Little Sisters bedeuten in jedem Fall eine anständige Ausbeute an ADAM für jeden, der sie in die Finger bekommt.
Um dem entgegenzuwirken, braucht man also einen Beschützer, der in der Lage ist, alles auszulöschen, was den Sisters zu nahe kommt. Hier kommen damit die Big Daddies ins Spiel, schwer gepanzerte, genetisch modifizierte Monstren in gigantischen Taucheranzügen, wandelnde Tötungsmaschinen, deren einziger Zweck es ist, die Little Sisters zu beschützen.
Und genau das ist ein Sinnbild für die geniale, makabere Widersprüchlichkeit, die Bioshock auszeichnet.



Wer einmal dieses ungleiche Paar durch die zerstörte Kulisse Raptures wandern sah, wird wissen, was ich meine. Aneinandergebunden durch diverse Verhaltensmodifikationen entfaltet sich zwischen beiden eine geradezu groteske Verbindung. Der Big Daddy wird handzahm im Umgang mit der Little Sister, alles um ihn herum ist ihm egal, solange nur niemand dem kleinen Mädchen zu nahe kommt. Dieses wiederum sieht in dem riesigen Monster eine Vaterfigur, es nennt ihn „Mr. Bubbles“, spielt sogar mit kleinen Big Daddy-puppen.
Und wenn man einen Big Daddy erlegt, steht es minutenlang bei seiner Leiche und weint.

Warum man das tun sollte?

Weil einen das Spiel genau wie die ganzen Splicer, gegen die man sich zur Wehr setzen muss, vor eine bizarre Wahl stellt.
Man braucht das ADAM und die daraus resultierenden Fähigkeiten, wenn man in dieser Stadt überleben will.
Ja, jetzt sehen vermutlich auch diejenigen, die das Spiel nicht kennen, auf welches moralische Dilemma das hier hinausläuft.
Man könnte die Sisters, mit dem Begriff, den das Spiel benutzt, „abernten“. Dabei entfernt man gewissermaßen so schnell wie möglich die Schnecken aus der Magenschleimhaut und maximiert die ADAM-Ausbeute. Der „Wirt“ überlebt diesen Prozess nicht.
Tenenbaum, eine Wissenschaftlerin, die ihre maßgebliche Beteiligung an der Erschaffung der Little Sisters inzwischen bereut, eröffnet dem Spieler noch eine zweite Alternative; Sie hat eine Möglichkeit erarbeitet, die Schnecken schonender zu entfernen und die Sisters in „normale Mädchen“ zurückzuverwandeln.
Allerdings ist die ADAM-Ausbeute durch diesen Vorgang bedeutend geringer als bei der anderen Alternative.
Vielleicht zu wenig für den Spieler, um die Odyssee durch Rapture zu überleben.



Kritiker, vor allem vermutlich jene, die Videospieler regelmäßig mit dem Begriff „Killerspiele“ niederkloppen, würden hier natürlich anmerken, dass Bioshock damit auf eine barbarische Art und Weise etwas zutiefst Verachtenswertes noch belohnt – Wer die Sisters aberntet, der bekommt mehr ADAM und maximiert seine eigene Chance, zu überleben.
Soweit klar.
Ich allerdings sehe darin viel mehr eine moralische Prinzipienfrage, die in einem der Trailer angesprochen wird und mit der man im alltäglichen Leben, sehr oft im Kleinen, manchmal auch in größeren Maßstäben konfrontiert wird;
Ist man bereit, das ethisch Richtige zu tun, wenn es mit massiven Nachteilen für sich selbst verbunden ist? Und in diesem Kontext bis zur letzten Konsequenz getrieben: Hält man auch dann noch an moralischen Idealen fest, wenn das eigene Überleben auf dem Spiel steht?

Du oder sie?

Natürlich ist nüchtern betrachtet klar – deine Entscheidungen haben keinerlei Konsequenz außer die, die du auf dem Bildschirm präsentiert bekommst. Du tötest eine Ansammlung von Pixeln oder verschonst sie, und je nachdem änderst du den Verlauf einer frei erdachten Erzählung und bekommst am Ende die eine oder die andere Videosequenz zu sehen.
Aber abgesehen von einer Inszenierung, die unter die Haut geht, liegt eine große Stärke von Bioshock darin, das gewaltige Potenzial, das in der Natur von Videospielen liegt, auszuschöpfen: Die persönliche Involvierung des Spielers. Anders als bei Büchern und Filmen ist man nicht nur ein Beobachter, man nimmt teil, man gestaltet die Geschichte mit, man ist (bei guten Spielen) viel näher am Geschehen, hat eine viel größere emotionale Bindung an das, was passiert.
Und in diesem Aspekt brilliert Bioshock.
So sehr, dass ich bis heute in beiden Spielen zusammen erst eine Little Sister abgeerntet habe.
Weil ich aus Versehen den falschen Knopf gedrückt habe.
Danach habe ich neu geladen und in Kauf genommen, die halbe Stunde seit dem letzten Speichern noch einmal zu spielen.

Und um ENDLICH den Bogen zur Einleitung zurückzuschlagen – in dieser Beziehung übertrumpft der zweite Teil den Erstling noch einmal haushoch.
Denn im ursprünglichen Bioshock schien man am Anfang nur ein vom Pech verfolgter Gestrandeter zu sein, der die Stadt in einem (zu) gewaltigen Zufall fand. Man war ein Außenstehender, die Vergangenheit wurde kaum beleuchtet, die Beweggründe beschränkten sich quasi auf den Wunsch, die Scheiße, in der man gelandet ist, zu überleben.
Der gewaltige Twist, der das letzte Drittel des Spiels einleitet, der dem Spieler offenbart, wer er ist und was es mit seiner Vergangenheit auf sich hat, der haut einen um, keine Frage.
Aber bis dahin ist die emotionale, die persönliche Bindung des Spielers zum Protagonisten im Vergleich zum zweiten Teil geradezu belanglos.

Denn in Bioshock 2 ist man nicht nur irgendein unglücklich Gestrandeter in diesem wahnsinnigen Chaos – man ist selbst ein Big Daddy.
Und mit dieser simplen Tatsache treibt die Fortsetzung das ganze makabere Spiel der Gier nach ADAM und der Beziehung Sister – Daddy auf die vorläufige Spitze.
Wieder braucht man das ADAM, um zu überleben, wieder steht man vor der Wahl, wie man mit den Mädchen verfahren will, doch diesmal ist man nicht nur ein Außenstehender, der den freundlichen Mr. Bubbles erledigt und sich die Little Sister schnappt – man ist der freundliche Mr. Bubbles.
Die Mädchen behandeln den Spieler wie ihren eigenen Vater, man trägt sie auf seiner Schulter durch die zerstörte Stadt, man beteiligt sich sogar an der makaberen Suche nach ADAM und beschützt sie vor Horden anstürmender Splicer, während sie neben frischen Leichen knien und sie abernten.
Und am Ende hat man die Wahl, wie man sie von diesem Schicksal erlöst.

Aber nicht nur hier übertrumpft der Zweier seinen Vorgänger.
Auch der gesamte Kampf das Protagonisten mit seiner Widersacherin findet auf einer viel persönlicheren Ebene statt und offenbart im Lauf der Geschichte eine außergewöhnliche Tragik.

Besonders hier war ich skeptisch.

Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass geniale Antagonisten wie der visionäre Idealist Andrew Ryan oder der manipulative Industrielle Frank Fontaine in all seiner Menschenverachtung noch übertroffen werden könnten.
Aber die begnadete Psychologin Doktor Sofia Lamb hasst man nicht nur vom Intro des Spiels an noch inbrünstiger als die beiden anderen zusammen, nein, zwischenzeitlich fällt es – zumindest mir persönlich – sogar viel schwerer, die Denkfehler und –Sackgassen in ihrer Sichtweise zu enttarnen.
Und nicht zuletzt hat man am Ende irgendwie Mitleid mit ihr.



Dreh- und Angelpunkt der ganzen Geschichte ist die Little Sister Eleanor, das Mädchen, auf das man selbst als Big Daddy im Rahmen der „Paarbindung“, wie es die Wissenschaftler Raptures nennen, geprägt wurde. In gewisser Weise also die Tochter des Spielers, wie bizarr die Hintergründe dafür auch sein mögen.
Aber auch die Tochter von Sofia Lamb, die ihr in den ganzen Wirren und dem Chaos des Niedergangs von Rapture genommen und zu einer Little Sister gemacht wurde.
Genau so, wie sie sich Elanor im Intro zurückholt und sie dem Spieler wegnimmt.
Diese Konstellation birgt nicht nur eine gewaltige Tragik und ein emotionales Potenzial in sich, dass den Spieler über die ganze Handlung hinweg antreibt, sie behandelt im Verlauf auch Themen wie „Besitzansprüche“ der Eltern und deren verfehlte Erwartungen an ihre Kinder als etwas, das einen Zweck zu erfüllen hat, die persönliche Freiheit Eleanors genau so wie die Freiheit und die Ansprüche des Einzelnen gegenüber dem Ideal des Allgemeinwohls und eine ganze Menge mehr Aspekte und Facetten.
Und erst nach und nach kristallisiert sich heraus, warum Sofia Lamb sich in gewisser Weise selbst das Recht auf ihre Tochter nimmt und weshalb der Spieler sie aufhalten muss. Er braucht sie nicht nur selbst, psychisch wie physisch (Randnotiz: Im Rahmen der Paarbindung sterben Big Daddies, die sich zu lange zu weit von ihrer Little Sister entfernen und haben damit auch noch einen ganz logischen Grund, sie zu beschützen - Wenn ihr Herz zu schlagen aufhört, tut es deines genau so.), er muss auch erkennen, wie sehr sich Dr. Lamb in ihrem grenzenlosen Idealismus von der Position einer liebenden Mutter entfernt.
Nicht nur, indem sie Eleanor ihren "Vater" nimmt, sondern auch indem sie versucht, mit ihrer Existenz einem ganz persönlichen Zweck zu dienen, aus ihr eine "Utopistin" zu machen, wie sie es formuliert, einen Menschen, der sein Leben ganz und gar dem Allgemeinwohl verschreibt und das Selbst, das eigene Ich in jeder Beziehung unterordnet – sie will diesen Teil am Ende sogar komplett auslöschen mithilfe von Indoktrination, genetischer Modifikation und dem Einfluss von ADAM. Als Little Sister soll Eleanor diese Substanz in nie dagewesenen Mengen aufnehmen, denn ADAM, das aus Leichen gewonnen wird, birgt nicht nur die Macht der offensichtlichen Umwandlungen, es ist quasi auch wie ein Schwamm, der die Fähigkeiten, die Erinnerungen, den Geist jedes vergangenen Trägers in sich aufsaugt. Eleanor würde damit geistige und körperliche Fähigkeiten gewinnen, die die jedes Menschen vor ihr übersteigen, sie wäre Ärztin, Ingenieurin, Architektin, Wissenschaftlerin, Arbeiterin, in jedem Gebiet eine nie dagewesene Koryphäe – und mitsamt der Gehirnwäsche und genetischen Modifikation darauf ausgerichtet, in all ihrem Streben und Tun immer dem Allgemeinwohl zu dienen.
Ganz davon abgesehen, wie idealistisch ein solches Ziel ist, ist es Dr. Lamb am Ende immer gleichgültiger, ob sie damit einen natürlichen Teil von Eleanor als Mensch und Individuum künstlich auslöscht, oder ob ihre Tochter das überhaupt will.

Und hier zeigt sich im Verlauf immer mehr der gewaltige Denkfehler ihres Standpunkts, wenn Eleanor trotz aller Maßnahmen beginnt, sich von ihrer Mutter zu distanzieren, sich zu wehren und sich immer mehr zu jener Vaterfigur hingezogen fühlt, die dort draußen in Rapture, außerhalb der massiven Verteidigungslinien und des sicheren Refugiums von Sofia Lamb, um ihr Überleben kämpft, alles abwehrt und jede Hürde bewältigt, die die verblendete Idealistin ihr in den Weg stellt, um irgendwie ihre Tochter zu finden.
Weil diese Vaterfigur, obwohl sie durch die Paarbindung einen ganz nüchternen, logischen Grund hat, Eleanor in ihrer Nähe zu behalten, am Ende nichts anderes will als die gefühlte Tochter aus dieser Hölle zu befreien. Irgendwie ist damit die künstliche Beziehung zwischen Little Sister und Big Daddy liebevoller und ehrlicher als ihr natürliches Pendant, das zu idealistischen Zwecken missbraucht wird.
Und obwohl sie von ihrer Mutter massiv überwacht und kontrolliert wird, findet sie Wege, dem Spieler Hinweise zu geben, wie es weitergeht, ihm Unterstützung zukommen zu lassen, und ihn immer wieder zu bitten, sich zu beeilen.

Nicht nur das, wenn man sie schlussendlich befreit und sogar die Möglichkeit bekommt, die inzwischen fast erwachsene Tochter in brenzligen Situationen zu Hilfe zu rufen und Rücken an Rücken mit ihr zu kämpfen gegen die Widrigkeiten, die eine zusehends verbitterte Mutter schlussendlich BEIDEN entgegen wirft, kommt auch die Tragweite der eigenen moralischen Entscheidungen während des Spiels zutage.
So wird Eleanor sich den Little Sisters gegenüber genau so verhalten wie ihr Vater, sie wird entweder alles tun, um ihnen zu helfen, oder sie wird sie wie Bauernopfer dem eigenen Zweck unterwerfen.
(Wo man auch einen netten Seitenhieb auf das sehen mag, was man als Vorbildfunktion der Eltern bezeichnen könnte - ein weiterer Aspekt, der durchaus als Kritik an realen Zuständen interpretierbar ist.)



Und im zweiten Teil sind das nicht die einzigen moralischen Entscheidungen, die man zu treffen hat.
Mehrere Male steht man auch direkt vor der Wahl, jene Widersacher, Handlanger Lambs, die einem das Leben vorher stundenlang zur Hölle gemacht haben, entweder endlich aus dem Weg zu räumen oder sie zu verschonen und ihnen zu zeigen, dass man nicht das kaltblütige, seelenlose Monster ist, vor dem die Doktorin unter ihren fanatischen, fast an eine Sekte erinnernden Anhängern Angst verbreitet.
So trifft man zum Beispiel auf Grace Holloway, Eleanors „Tante“, die das Mädchen aufgenommen hat, als ihre Mutter im politischen Chaos Raptures von Andrew Ryan in eines der überbelegten Gefängnisse für unerwünschte Individuen gesteckt wurde.
Am Anfang ist sie Lamb geradezu fanatisch hörig, glaubt ihr bedingungslos, dass der Spieler nur ein unnatürliches, gefühlloses Monster ist, das sie alle erledigen will. Erst, als man alle Hindernisse überwunden hat, um bis in den Raum zu gelangen, wo sie sich zurückgezogen hat und einen Gegenstand zu bekommen, den man für den Spielfortschritt benötigt, bekommt man die Gelegenheit, ihr das Gegenteil zu beweisen.
Die alte Frau ergibt sich in ihr Schicksal, sie sieht, dass nichts, was sie tut, den Big Daddy aufhalten kann – Sie öffnet dem Spieler am Ende selbst die Tür und stellt sich in die Ecke, fordert ihn quasi auf, zu tun, was ihrer Meinung nach seiner Natur entspricht.
Man nimmt den benötigten Gegenstand, und steht ihr gegenüber, die Waffe im Anschlag.
Ich persönlich verließ nach einigen Sekunden den Raum wieder, ohne abgedrückt zu haben.
Denn genau wie ich im Spiel keine kleinen Kinder töten will, will ich keine wehrlose alte Frau erschießen.
Und auch diese Entscheidung wird belohnt. Denn Grace sieht sich dadurch gezwungen, ihren Standpunkt neu zu überdenken – und fortan hat man eine Verbündete mehr, die einem ab und zu kleinen Hilfspakete zukommen lässt.

Später steht man nach ähnlich erbittertem Kampf Stanley Poole gegenüber, dem Mann, der Eleanor in ein Waisenhaus gesteckt und damit entscheidend dazu beigetragen hat, sie zur Little Sister zu machen, dem Mann, der auch den Spieler selbst vor Jahren verraten und ihn bei Andrew Ryan als Spion denunziert hat, woraufhin er als politischer Häftling für das "Protektorenprojekt" missbraucht und schlussendlich zum Big Daddy gemacht wurde.
Wieder steht man einem Widersacher gegenüber, der einem stundenlang Kopfzerbrechen bereitet hat. Anders als bei Grace, die sich ihrem Schicksal entschlossen stellt, erkennt man, was für ein Wrack der Mann geworden ist, der einst Stanley Poole war.
Zerfressen von Selbstzweifeln, Schuld und Angst kauert er vor dem Spieler, und dieser hat wieder die Wahl.
Und wieder verließ ich den Raum, ohne abzudrücken.

Anders sieht es da schon bei Gilbert Alexander aus, einem der ehemals führenden Wissenschaftler Raptures, der nicht nur persönlich an der Entwicklung der ersten Big Daddies beteiligt war, sondern sich selbst noch dazu einem Projekt unterzog, das der Vorläufer für das sein sollte, was Dr. Lamb später für Eleanor plante.
Er ließ sich mit ADAM vollpumpen, um die Erinnerungen und Fähigkeiten ganz Raptures in sich aufzunehmen, und Stück für Stück wurde aus dem durchaus nicht unsympathischen Mann, der Eleanor zu Beginn noch helfen wollte, eine gewaltige, deformierte Abscheulichkeit in einem riesigen Zuchttank, die dem Wahnsinn verfiel.
Während man sich durch die Überreste seiner Forschungseinrichtungen kämpft und von seinem momentanen Ich mit Hindernissen überhäuft wird, findet man nach und nach Aufzeichnungen des Mannes, der Gilbert Alexander – das Wesen, das sich jetzt selbst Alexander der Große nennt – einmal gewesen ist, und in denen er dem Spieler offenbart, was er aus sich selbst machen ließ und ihn letztlich auffordert, ihn von diesem Schicksal zu erlösen.
Hier wiederum entschied ich anders, als ich vor der Steuerkonsole des Tanks stand, der das enthielt, was von Gilbert Alexander übrig geblieben war.
Ich entschied mich, der Bitte seines alten Ich nachzukommen, bevor ich den Raum verließ.
Die schwierigste moralische Entscheidung des Spiels, für mich persönlich.

Überrascht wiederum war ich von der Entwicklung von Augustus Sinclair, einem Mann, der zur Zeit, als Andrew Ryan noch über Rapture herrschte, für die Planung und Durchführung der politischen Haft unangenehmer Individuen verantwortlich war.
Sinclair wiederum ist eine Person, mit der man das ganze Spiel über ein Zweckbündnis unterhält, denn auch er will Lamb aufhalten. Und obwohl er mir von Anfang an irgendwie heuchlerisch und schmierig vorkam, hilft er dem Spieler fortwährend, führt ihn mit hilfreichen Hinweisen und Erklärungen per Funk durch die Stadt, und irgendwie entsteht im Verlauf durchaus eine…ich will es nicht Freundschaft nennen, aber eine Sympathie, die über das bloße Zweckbündnis hinausgeht.
Trotzdem ließ ich mich von zahlreichen Andeutungen Lambs verunsichern, in denen sie mich süffisant aufforderte, mir doch die Frage zu stellen, was Sinclairs Beweggründe sein mochten.
Zumal man den Verrat von Verbündeten aus dem ersten Teil noch allzu genau in Erinnerung hat.
Doch es stellte sich heraus, dass Bioshock hier mit genau diesen Erwartungen des Spielers jongliert. Denn als Sinclair Lambs Häschern in die Hände fällt, – bei dem Versuch, dem Spieler, der zu diesem Zeitpunkt gefangen ist, zu helfen - wird er gegen seinen Willen ebenfalls zu einem Big Daddy umgestaltet und darauf gepolt, seinen ehemaligen Partner aufzuhalten.
Selbst zu diesem Zeitpunkt kämpft er noch gegen die Indoktrination an und schanzt einem Hinweise zu, wie man an den Verteidigungslinien vorbei kommen und ihn letztlich ausschalten könnte.
Hier hoffte ich bis zuletzt, dass man auch bei Sinclair auf irgendeine Weise die Wahl haben würde, ihn zu töten oder zu retten.
Doch an dieser Stelle ist Bioshock 2 erbarmungslos. Es gibt keinen Weg, das Schicksal eines Big Daddies rückgängig zu machen. Genau hier, wo man es sich als Spieler am allermeisten wünschen würde, hat man keine Wahl.
Sinclair muss sterben – und auch die Tatsache, dass er das selbst sieht, dass er einen dazu auffordert und einem am Ende dankbar ist, macht es nur sehr bedingt besser.

Und trotz allem, trotz der Dinge, die sie einem antut, in den letzten Spielstunden, als Eleanor frei ist und zusammen mit dem Spieler gegen Sofia Lamb vorgeht, damit sie mit ihrem Vater und allen geretteten Little Sisters schlussendlich aus Rapture entkommen kann, hat man irgendwie Mitleid mit dieser Frau.
Nicht nur, weil sie sich selbst genau so wie alle anderen zum Opfer ihrer Ideale gemacht hat, sondern auch, weil in den Funknachrichten, durch die sie mit dem Spieler kommuniziert, gegen Ende hin immer mehr das Leid und die Verbitterung einer Mutter dargestellt wird, deren eigene Tochter sich in letzter Konsequenz gegen sie stellt und mit dem verbündet, den sie mit allen Mitteln von ihr fernhalten wollte – und das obwohl sie nie einen persönlichen Groll gegen den Spieler hegte, obwohl sie sah, dass auch er durch seine Umwandlung zum Big Daddy in gewisser Weise nur ein Opfer all dieser Perversion Raptures ist.
Aber er musste Eleanor fernbleiben. Er musste sterben. Für das große Ideal „Allgemeinwohl“.
Was sowohl er als auch Eleanor davon halten, ist angesichts der überwältigenden Wichtigkeit dieses Strebens in letzter Instanz unwichtig.
Und nachdem ich also die finale Videosequenz – das „gute“ Ende – von Bioshock 2 an mir vorüberziehen ließ, muss ich sagen, allein die Tatsache, dass ich froh war, dass Eleanor im entscheidenden Moment trotz allem ihre Mutter rettet und diese facettenreiche, menschliche Antagonistin überlebt, obwohl man sie anfangs so inbrünstig hasst, das allein macht Bioshock 2 schon großartig.



Und es ist nicht zuletzt philosophisch und moralisch gesehen eine gewaltige Aussage, die dahinter steckt.
Denn Eleanor genau so wie der Spieler setzten sich – ich spreche hier wiederum natürlich ausschließlich vom „guten“ Spielverlauf, da ich die anderen schlicht und ergreifend bis jetzt gar nicht kenne – während der gesamten Geschichte genau so für das Allgemeinwohl ein, wie Lamb selbst das immer propagiert hat.
Der Knackpunk ist jedoch, sie taten es freiwillig. Aus eigenem Entschluss, ohne dass man ihr Selbstbewusstsein, ihr Ego, ihr individuelles „Ich“ dafür künstlich unterdrücken oder auslöschen hätte müssen.
Menschen KÖNNEN so sein. Von sich heraus. Mit den Anlagen, die ihnen von der Natur gegeben sind, ohne dass man irgendwie an ihnen herummodeln und etwas davon künstlich auslöschen muss.
Denn man kann sie von solchen Idealen überzeugen, ohne ihnen ihren freien Willen zu nehmen. Vielleicht nicht alle, vielleicht nicht einmal die meisten, aber manchmal reichen schon einige wenige, um den Unterschied zu machen.
Und weil sie es freiwillig tun, weil sie davon überzeugt sind, sind sie ungleich wertvoller als alles, was man künstlich aus einem Menschen machen könnte.
Allein schon, weil man mit solchen Maßnahmen schlicht und ergreifend zu weit geht.
Nicht selten wird man bei großen, wichtigen Fragen vor der Entscheidung stehen, dass einige wenige sich zum Wohle einer viel größeren Menge opfern müssen. Der idealistische Anspruch, dem Wohle ALLER zu dienen, lässt sich mit den Konflikten der Realität beinahe nie vereinbaren.
Aber das darf nie etwas sein, das man willentlich und mit voller Absicht in Kauf nimmt.
Und am Ende ist man auch selbst, als Einzelner, Teil dieser Allgemeinheit, deren Wohl man sich zum Ziel gemacht hat. Das außer Acht zu lassen führt viel zu oft zu einem aufopfernden Verhalten, das beinahe autodestruktive Formen erreicht.

Und damit bin ich am Ende dieses zugegebenermaßen ewig langen Eintrags doch bei einer gewissen Aussage angekommen, die über die bloße Rezension eines Videospiels hinausgeht.

Und habe zudem hoffentlich anschaulich erklärt, warum Werke wie Bioshock in meinen Augen einen Anspruch auf die Bezeichnung „Kunst“ haben.

Samstag, 27. März 2010

Und die Devise heißt: Leben.

Eine kleine Kurzgeschichte, heute Nachmittag in einem ziemlichen Kreativflash entstanden.
Muss ja auch nicht immer alles nur bitterer Zynismus und Kritik sein.

- -

Langsam fuhr er mit der Hand über die raue, verwitterte Steinfläche, auf der er saß. Lauwarm beschienen von der Sonne, die sich anschickte, endgültig die letzten Reste eines Winters zu vertreiben, der sich viel zu lange angefühlt hatte.
Ewig lange…
Er lächelte.
Früher hätte er den Ausdruck, der sich jetzt auf seinem Gesicht abzeichnete, während er den Kopf in den Nacken legte und die wärmenden Sonnenstrahlen genoss, die ihm durch jede einzelne Pore seiner Haut drangen, nur unterbrochen von einer angenehm kühlen Brise hin und wieder, wohl als bescheuert bezeichnet. Grenzdebil vielleicht. Möglicherweise sogar hirnlos. Ganz sicher unangemessen.
Aber früher hatte er ja so vieles anders gesehen, anders bezeichnet, anders gedacht.
Wenn sein altes Ich ihn jetzt so sehen würde, es würde ihn wahrscheinlich als Verräter beschimpfen… oder ihm einfach nur schreiend dieses grenzdebile Grinsen aus der bescheuerten Fresse schlagen.
Aber er konnte nicht anders – wenn er jetzt an sich herabsah, auf seinen Schoß, in den sie ihren Kopf gebettet hatte, die Augen geschlossen, der Gesichtsausdruck friedlich, fast als würde sie schlafen, dann musste er lächeln.
Alles andere wäre bescheuert gewesen.
Vielleicht auch grenzdebil.
Ja, möglicherweise sogar hirnlos.
Ganz sicher aber unangemessen.
Er veränderte leicht seine Sitzposition, um sich umsehen zu können, was von ihr mit einem schläfrigen Grummeln quittiert wurde, und ließ den Blick über die Umgebung schweifen - die Brüstung der alten steinernen Mauer entlang, auf der sie sich befanden. In einem großzügigen Halbkreis umschloss sie die wenigen alten Parkbänke in ihrer Mitte, sporadisch bevölkert von Menschen, die ähnlich wie sie die ersten Anzeichen des anbrechenden Frühlings genossen. Eine kurze Zeit ließ er sich von dem Gedanken treiben, dass sie alle, ganz egal was sie dachten, woher sie kamen oder wer sie waren, für diesen Moment, für die Dauer ihrer Anwesenheit hier, das gleiche Gefühl genossen, dieses vielleicht illusionäre, vielleicht trügerische, aber absolut wunderschöne Empfinden tiefen Friedens, das für ihn absolut neu war.
In diesem Moment waren sie alle, ganze ohne Blicke, ohne Gesten oder Worte, eine Gemeinschaft.
Nur durch diesen Gedanken.
Er wandte sich wieder um und ließ den Blick über seine übereinander gelegten Füße hinaus auf dem dahin strömenden Fluss auf der anderen Seite der Mauer ruhen, beobachtete die Vögel, die sich singend umkreisten und sich dann sanft auf der Wasseroberfläche niederließen, um sich einfach nur mit dem Strom davon treiben zu lassen.
Früher hätte er sich nicht vorstellen können, dass es mitten in einer Stadt einen Platz wie diesen geben könnte, wo er sich von den wechselnden, sich ständig bewegenden Menschenmengen in seiner Umgebung nicht bedrängt und gestört fühlte. Wo niemand vorbeigehen konnte, ohne wenigstens einen Moment stehen zu bleiben und dieses überwältigende Gefühl zu genießen. Wo er einfach loslassen und sich entspannen konnte.
Früher…
Er fuhr sich nachdenklich durch das zerzauste Haar und ließ seine Gedanken zurück in jene Zeit schweifen, an der er beinahe zerbrochen wäre.
Ja… es war ein langer Winter gewesen.
Endlos lang.
Einen Moment glaubte er fast, sich einzubilden, wie die Welt um ihn herum plötzlich all die berauschenden, bunten, aufblühenden Farben verlor und wieder in einem fahlen Schatten versank, so, wie er sie damals gesehen hatte. Er blickte fröstelnd auf und sah zu, wie eine schneeweiße Wolke gemächlich vor der Sonne vorbeizog und all die Wesen, Menschen genau so wie Tiere und Pflanzen, die nach ihrer wohltuenden Wärme gierten, von ihr abschirmten.
Ja, so war es früher gewesen. Nur Wolken und keine Sonne. Immer nur Wolken.
Eine heuchlerische Gesellschaft, die sich in Arroganz und Ignoranz erging, die sich an ihrer grenzenlosen Dummheit auch noch aufgeilte und vollkommen gleichgültig gegenüber Ungerechtigkeit oder menschlichem Leid geworden war – und sich nach außen hin als freie, tolerante, mitleidvolle Gemeinschaft aufgeklärter Bürger propagierte.
Und das Einzige, was sie dabei am Ende tolerierte, waren nur ihre eigenen gewaltigen, unübersehbaren Makel.
Ja, dachte er, das fasste wohl den Großteil dessen zusammen, was seine Gedankenwelt damals ausgemacht hatte.
Und wieder musste er lächeln.
Wenn er sich jetzt daran erinnerte, dann wunderte es ihn gar nicht mehr, wie gründlich und vollkommen diese Jahre ihn damals zugrunde gerichtet hatten. Ständig war er gegen all das angerannt, was ihm so unglaublich wichtig erschienen war, was seiner Meinung nach einfach nicht sein durfte. Immer und immer wieder mit dem Kopf gegen die Betonwand. Hatte von Idealen geredet, die in seinen Augen tagtäglich im Kleinen wie im Großen verraten wurden.
Und über all das hatte er all die Jahre vergessen, sich umzusehen und die Dinge wahrzunehmen, die in Ordnung waren in dieser Welt.
Mehr als in Ordnung.
Faszinierend. Atemberaubend. Wunderschön.
Er hatte sich am Ende immer konsequenter und erbarmungsloser allem versperrt, was ihm auch nur ansatzweise wieder in Erinnerung hätte rufen können, wofür er all das damals eigentlich hatte tun wollen.
Für eine Welt, die so wunderschön war wie sie sich ihm hier offenbarte.
Und für den Gedanken, dass alle Menschen sie irgendwann so genießen konnten wie er es in diesem Moment tat.
Vermutlich hatte er sich damit letzten Endes über die Jahre vieler Dinge… vieler Erlebnisse und Erfahrungen beraubt. Die Meisten davon vermisste er immer noch nicht und würde es wohl auch nie.
Aber bei einigen – und für einen kurzen Moment wanderten seine Augen zurück zu dem friedlichen Gesicht in seinem Schoß – begriff er erst jetzt langsam, wie sehr sie ihm gefehlt hatten.
Auch wenn er das damals so erfolgreich verdrängt hatte, dass nicht einmal er es wusste.
Also war es falsch? War er ein Verräter an seinen Idealen? War er bescheuert, grenzdebil, hirnlos – verhielt er sich unangemessen?
War es das?
Unangemessen, sich einfach mal die Zeit zu nehmen und Momente wie diesen zu genießen? Obwohl anderenorts Menschen verhungerten? Obwohl es auf dieser Welt so viel Unrecht gab, dass er früher am liebsten schreien und weinen und alles, was ihm unter die Augen kam, ob Gegenstand oder Lebewesen, kurz und klein hätte schlagen können und sich selbst zerreißen, wenn es irgendetwas gebracht hätte?
Konnte so ein Moment überhaupt falsch sein? Konnte es falsch sein, sich zurückzulehnen und die Sonne zu genießen, ihre wärmenden Strahlen, die kühlen Brisen hin und wieder und die Tatsache, dass er zum ersten Mal seit Langem so etwas wie Frieden und Glück empfand?
Er schloss die Augen, als die letzten Wolkenballungen endlich vorüber zogen und die Sonne wieder ihre tastenden, wohltuend streichelnden Finger nach ihnen allen ausstrecke.
Nein.
So etwas konnte nicht falsch sein.
Es durfte nicht falsch sein.
Und wenn Momente und Tage wie dieser auch noch so selten sein mochten – wenn sie kamen, dann musste man sie genießen. Egal wie kurz sie waren oder wie banal sein jetziges Glück ihm früher auch erschienen wäre.
Kämpfen konnte man immer noch.
Man wusste nur wieder, wofür.
Scheiß drauf, dachte er, aber nicht jetzt.
Nicht jetzt.
Das hier gehört mir.
„Scheiß drauf“, sagte er leise, fast unwillkürlich, flüsterte es vor sich hin, wie um es sich selbst noch einmal einzuschärfen.
Er blickte wieder hinab und sah, dass sie die Augen geöffnet hatte.
Sie sah ihn an und lächelte.
Und sie fragte ihn nicht, was er meinte. Das tat sie nie. Sie wusste es einfach. Auch so.
Er schloss die Augen, ließ sich zurücksinken auf das lauwarm beschienene Gestein, verschränkte die Arme hinter dem Kopf -
und lächelte.

- -

Freitag, 19. März 2010

Der moderne Mastbetrieb: Fast Food und Dauerbeschallung

Ich esse ja allgemein sehr gerne an Plätzen, die ziemlich öffentlich sind.
Ich esse auch gerne zuhause, aber da ich unter der Woche in der Regel ständig irgendwie unterwegs bin, ist das meist nur an Samstagen und Sonntagen der Fall.

Der Grund ist ja auch nicht, dass mir das Zeug bei McDonalds, Burger King, Kantinen oder irgendwelchen Wirtshäusern besser schmeckt als das, was mir zuhause vorgesetzt wird.
Und billiger ist es schon mal gleich gar nicht, das ist vollkommen klar.
Aber ich mag es einfach, während ich auf mein Essen warte oder nachdem ich es gierig wie ein Schwein verschlungen habe, meine Umgebung ein bisschen zu beobachten.
Besonders natürlich die Menschen darin.

Dabei bekommt man vieles mit, von einzelnen Gegebenheiten, Absurditäten und Demonstrationen inhumaner Dummheit über ritualisierte Gewohnheiten, wenn man gewisse Personen immer wieder zur selben Zeit am selben Futtertrog vorfindet, bis hin zu Spiegelbildern ganzer Schicksale.

Es gibt da nämlich zum Beispiel eine alte Frau - ich bin nicht gut darin, das Alter von Menschen abzuschätzen, aber ich vermute, sie ist etwa achtzig, so um den Dreh - die man jeden einzelnen Tag der Woche, vom Moment der Öffnung an bis in den späten Nachmittag hinein in einer Filiale von McDonalds im Stadtzentrum sitzen sieht.
Manchmal einfach nur mit abwesendem Blick vor sich hin starrend, manchmal Zeitung lesend, je nach Tageszeit vielleicht mit einem Pappbecher Kaffee, einem anderen Getränk oder einem fein säuberlich zusammengefalteten Packpapier eines Cheeseburgers vor sich auf dem Tisch. Manchmal beobachtet sie auch nachdenklich einige andere Gäste - dann frage ich mich, ob sie am Ende dieselbe Gewohnheit hat wie ich - und manchmal bewegt sie sich so lange einfach überhaupt nicht, dass ich mich unwillkürlich ab und zu frage, ob sie nicht tot ist.
Aber immer ist sie allein.
Natürlich ist es jetzt auch nicht unbedingt sehr fundiert, aus solchen Beobachtungen Vermutungen über das Schicksal einer Person anzustellen, aber ich sehe darin oft das traurige Schicksal nicht weniger alter Menschen reflektiert, die in zunehmender sozialer Isolation und gefühlter Nutzlosigkeit apathisch ihrem Ende entgegenleben.
Von Tag zu Tag.
Dann tut mir diese Frau oft wirklich leid.
Aber wie der Rest der anderen Gäste fresse ich eben meistens doch nur schnell meinen Müll, sitze dann vielleicht noch ein paar Minuten herum und gehe wieder. Wenn nicht, spiele ich zwar tatsächlich ab und zu mit dem Gedanken, sie einfach mal unvermittelt anzusprechen, aber - zugegebenermaßen, ich bin eben wirklich nicht gut darin, auf fremde Menschen zuzugehen und Konversationen zu starten.
Zumal meine Kompetenzen im Smalltalk-bereich, mit dem die Allermeisten so etwas einleiten, tatsächlich erbärmlich sind. Was daran liegen mag, dass mich der übliche Smalltalk auch einen Scheißdreck interessiert.
Liegt vermutlich einfach daran, dass ich im Normalfall eher in meiner eigenen kleinen Welt herumirre und mich durch das gewaltige Chaos in meinem Kopf wühle, statt mich auf soziale Interaktion zu konzentrieren.
Sogar auf Parties. Wo ich meistens der klischeehafte schweigsame Typ bin, der rauchend vor einem Glas Whiskey an der Bar steht und vor sich hinstarrt.
Weshalb ich "normale" Parties, also Massenbesäufnisse, bei denen die Hemmschwelle für jede Art gesellschaftlicher Reglementierung unter dem Erdboden versinkt und es am Ende irgendwann nur noch um sinnlosen Smalltalk zwischen läufigen Freizeitnutten und denkenden Schwänzen auf Beinen geht, der möglichst zum Ficken führen soll, im Regelfall inzwischen auch sehr erfolgreich meide.
Manchmal zieht das Klischee des schweigsamen rauchenden Typs mit dem Whiskeyglas zwar auch einige Menschen an, ob Männlein oder Weiblein, die dieses Klischee faszinierend finden mögen, ich weiß es nicht. Aber ich selbst mache wirklich fast nie aktiv den Versuch, auf andere Menschen zuzugehen.

Aber egal. Ich schweife ab.
Die alte Frau ist jedenfalls eines der interessanteren - und vielleicht euch etwas melancholisch stimmenden - Beispiele, was ich da so beobachte. Wie gesagt, sehr viel häufiger sind alltägliche Absurditäten, Lächerlichkeiten und offen zur Schau gestellte Dummheit.

Oder Ereignisse, die irgendwie alles miteinander kombinieren.
Wie vor Kurzem geschehen, als ich gegen Mittag an einer anderen Filiale des Restaurants zum goldenen M vorübergefahren bin und mir dachte, ich könnte da ja kurz mal Essen fassen.
Wie in vielen anderen Restaurants dieses Franchises war auch dieses in den letzten Jahren scheinbar stark modernisiert worden, um ihm irgendwie eine moderne Ästhetik zu verleihen.
Falls es so was gibt.
Das ging von verspiegelten Wand- und Deckenflächen über einen in Glas eingefassten Kamin mit einem elektrischen Feuer bis hin zu zahlreichen Flachbildschirmen, die in einem endlosen Stakkato Musikvideos, Promi-news und natürlich Werbung auf die Kundschaft abfeuerten.
Andere Sachen wie echte Nachrichten wären ja auch ungünstig, wie die Verantwortlichen sehr richtig realisiert haben. Das interessiert die Leute eben einfach lange nicht so sehr wie dieser Schwachsinn.
Und so wird der Untergang der Esskultur, der soziale Faktor des Mittagessens, das Familienideal eines gemeinsamen Mahls, durch elektronische Geräte ersetzt, die dir alles über die Leute erzählen, die du wahrscheinlich nie im Leben treffen wirst.
Aber, wie schon mal an anderer Stelle erwähnt... das ist man ja inzwischen alles gewohnt.
Der ganz normale Schwachsinn, sozusagen.

Nach kurzer Zeit saß ich dann also auf meiner Kunstlederbank vor meinem Kuntsstofftisch mit dem Kunststofftablet und dem Kunststoffessen darauf.
Und wie ich das eben gerne tue, beobachtete ich nebenbei, was so um mich herum geschah.
Dabei konnte selbst ich irgendwann nicht mehr verhindern, dass meine Aufmerksamkeit sich zeitweise den Bildschirmen zuwandte.
Zumal sie einfach ÜBERALL waren, verfluchte Scheiße.
Und da erfuhr ich dann so nützliche Sachen, wie das im lokalen Kino bald ein Film laufen würde, der tatsächlich "LOL" heißt, dass es in Hollywood rumorte, Nicole Richie würde bald heiraten... und natürlich dass man nicht mal mehr beim Fressen von Werbung verschont wird.

Wieder mal blieb mir da Germany's next Topmodel als herausragendes Negativbeispiel in Erinnerung.
Wir stellen uns folgende Szenerie vor:
Eine modisch gekleidete Frau mit Topfigur, professionell geschminkt und wahrscheinlich zudem digital überarbeitet, sitzt auf einer Bank in einem friedlichen Park und fummelt an ihrem Nintendo DS herum, wobei man ihr ansieht, dass sie fünf Minuten vor Drehbeginn nicht wusste, dass es so etwas überhaupt gibt.

Was sie spielt? "America's Next Topmodel", erhältlich für Wii und DS.

Und wie auf Kommando bricht plötzlich Chaos um sie herum aus. Journalisten, Kameramänner und Fotografen stürmen von allen Seiten ins Bild und umringen sie, Blitzlichtgewitter, Stimmengewirr, das Knipsen von Fotoapparaten. Sie sitzt da mit einem überraschten Gesichtsausdruck, den ich mit zwei Promille noch besser spielen könnte und fängt nach kurzer Zeit an, sich in Pose zu werfen, räkelt sich auf der Bank und spielt ihre Rolle an dieser Stelle zum ersten Mal wirklich überzeugend.
Es folgt der Übergang, das Spiel wird gezeigt und irgendeine verschlafene Praktikantin liest einen Text ab, an den ich mich nicht mehr erinnere, der aber wohl auf "Werde zum Topmodel blahblub sei ein Star wargh!" hinausläuft.

Tja, da sitzt man dann, und vergisst fast, dass man eigentlich zum Essen hier ist.
Man wendet den Blick ab und beobachtet seine Umgebung, vornehmlich bevölkert von Menschen, über die genau die Leute, die diese Werbung erdacht haben, wohl die Nase rümpfen würden; Ungepflegte Unterschichtler, Handwerker mit Schweißgeruch der nicht mehr im ignorierfähigen Rahmen liegt, Menschen, die Klamotten anhaben, die aussehen, als wären sie von der Altkleidersammlung aus Afrika zurücktgeschickt worden.
Und alle tapsen sie durch den modernen Mastbetrieb, sitzen zufrieden grunzend um ihre Plastikfuttertröge herum und stopfen das billige Fressen in sich hinein, dass ihnen vorgeworfen wird, während der Bauer ihnen mit einem Megafon von einer Empore aus zuschreit, immer weiter zu fressen und sich vollzustopfen, weil sie nur schön sind, wenn sie so fett werden, dass sie aus allen Nähten platzen. "Fressen und schlafen, das ist euer Idealzustand, euer Paradies, und wir geben euch alles was ihr braucht in unserem grenzenlosen Altruismus!"
Und im Hinterraum wetzt der Schlächter schon seine Messer.

Nicht weit von mir, ein paar Tische weiter, zwei Weibchen der Gattung Homo sapiens, denen man auf den ersten Blick an ihrer hautengen, glitzernden und blinkenden, pelzigen Bekleidung und dem bröckelnden Putz auf ihren Gesichtern ansieht, dass sie die Beine schon breit machen würden, wenn man mit einem frisch gewaschenen, tiefergelegten Fiat Cinquecento vorführe.
Warum frisch gewaschen?
Weil er dann so krass glänzt.

Jedenfalls erkannte man sofort an dem glasigen Blick, mit dem eine von ihnen den Bildschirm fixierte, während die andere sich genüsslich und auf nicht gerade appetitliche Weise Nahrung zuführte, dass das System funktionierte.
Als sie dann auch noch mit einem Stupser, den ich persönlich als Kinnhaken definieren würde, die Aufmerksamkeit ihrer Freundin forderte, dem Bildschirm zunickte und wohl so etwas sagte wie "Schau mal, geil ey!", musste ich einen Moment überlegen, ob ich jetzt weinen, aufstehen und die ganze Einrichtung zerlegen oder lachen sollte.

Ich entschied mich zu lachen.

Einfach, weil's am angenehmsten ist.

Und man auf lange Sicht nicht überleben wird, wenn man sich für eine der anderen Alternativen entscheidet. So berechtigt sie auch erscheinen mögen.

Und man kann ja zum Beispiel auch darüber lachen - oder sich zumindest, gemein wie man ist, schadenfroh darüber freuen - dass die neue Staffel GNTM Berichten zufolge äußerst schlechte Quoten einfährt.
Vielleicht ist man sogar so optimistisch, zu hoffen, dass dies das Ende dieses Formats bedeuten könnte.

Womit man sich aber am Ende selbst belügen würde.

Denn der nächste Schwachsinn kommt bestimmt.

Samstag, 13. März 2010

Nockherberg 2010

Als kleine Unterbrechung des schnöden Text-marathons zwei Videos vom Starkbierfest am Nockherberg 2010, einer bayrischen Veranstaltung, bei der Politgrößen einiges an Satire über sich ergehen lassen müssen - und dabei nichts anderes tun können, als hemmungslos falsch und gekünstelt zu lachen, um den schönen Schein zu wahren.

Helmut Schleich richtet als verstorbener Franz Josef Strauß über seine Nachfolger.
... und das Ende des von ihm angekündigten Singspiels "Bavaria sucht den Superpolitiker".

Nach der Wiederholung der Live-übertragung des Starkbierfests am Nockherberg im bayrischen Rundfunk gab es übrigens einige totgeschwiegene Kritik daran, dass Stellen, die der Politik nicht gefallen haben, gestrichen wurden. Natürlich nur, um die Sendung auf eine angebrachte Länge zu reduzieren, die in das Programm des Senders passt.
Die Pointe eines Witzes, über den ich schon lange nicht mehr lachen kann.

Wer jetzt übrigens den Gedanken, dass es sich hier gerade um eine Verzögerungstaktik handelt, um irgendwelchen Inhalt ohne besonders viel eigene Arbeit anzubieten, nicht verdrängen kann... der hat damit durchaus recht. Ich habe derzeit etwas wenig Zeit, aber ich hoffe, den nächsten Eintrag noch dieses Wochenende fertig stellen zu können.

Samstag, 6. März 2010

Mehr als nur meckern.

Aus aktuellem Anlass, nämlich einem für diesen Eintrag im Wesentlichen nicht weiter wichtigen Gespräch in einem Forum, habe ich mich entschlossen, jedem Leser hier und vor allem den wenigen, die von meinem ständigen Politikgelaber und meinen Crashkursen à la "Warum Deutschland eigentlich total am Arsch ist und wie sehr und überhaupt." in Privatgesprächen vermutlich bereits vollkommen entnervt sind, Wege aufzuzeigen, abhängig von eigenem Interesse und eigenen Möglichkeiten eben mehr zu tun als... nur zu labern und zu meckern.

Die typischen Pauschalantworten, die für gewöhnlich darauf hinauslaufen, seine Meinung auch anderen gegenüber zu vertreten und das insbesondere, wenn man gerade mal wieder nicht gefragt wird, oder Konsequenzen für sein persönliches Verhalten und Handeln zu ziehen, klammere ich hiermit dabei gleich mal ganz bewusst aus, da ich mir dann sowieso oft genug Argumente wie "Es bringt doch eh nichts." und "Als Einzelner kann man doch sowieso nicht ausrichten..." anhören muss, die dann aufgrund meiner sehr eindeutigen Antworten nicht gerade dazu beitragen, mir den Ruf eines freundlichen, höflichen Menschen einzubringen.

Was also kann man darüber hinaus tun, und wenn es auch nur ein kleines bisschen ist, um sein Gewissen zu beruhigen und sich ein paar Minuten nicht mehr wie ein untätiges, feiges Schäfchen zu fühlen?
Ja, süße kleine Schäfchen, das seid ihr, nicht wahr? Dumme süße kleine Schäfchen! Haargenau! Ah wusiwusiwu!

Nur leider trottet ihr dem Wolf hinterher und lasst euch von ihm vor dem Hirten beschützen.

Nun, da wäre zum Beispiel Campact - Demokratie in Aktion, deren Aktivitätsspektrum durch den Namen, der "Campaign & Action" verbindet, bereits treffend zusammengefasst wird. Campact organisiert nicht nur Kampagnen und öffentliche Demonstrationen, es bietet auch die Möglichkeit, sich via Internet ganz schnell und unkompliziert an Petitionen, Unterschriftensammlungen und Sammelklagen zu beteiligen.
Darüber hinaus kann jeder weitergehend Interessierte den Newsletter bestellen und sich so mit einem Mindestmaß an eigener Initiative auf dem Laufenden halten. Ihr müsst nur auf die Mail klicken und lesen!
Wow!
Zusätzliche freiwillige Unterstützung kann auch eine Fördermitgliedschaft oder Spende an diese gemeinnützige und parteienunabhängige Organisation beinhalten.

Außerdem hätten wir da noch Mehr Demokratie e.V., ein Verein, der sich vor allem die Einführung bundesweiter Volksentscheide und deren Verankerung im Grundgesetz zum Ziel gemacht, also die Möglichkeit für das Volk, über wichtige Sachfragen in Zukunft direkt und für die Politiker verbindlich abzustimmen, was ich persönlich massiv unterstütze.
Bisher scheitert MD e.V. zwar an der für eine Verfassungsänderung nötigen Zweidrittelmehrheit im Bundestag, aber immerhin haben sie die Disskusion mehrere Male neu entfacht und 2002 sogar eine absolute Mehrheit erreicht - die nötige Zweidrittelmehrheit aber scheiterte damals an einer Blockade durch die Union.

Was so was bringen soll?

Nun ja, wenn man zum Beispiel mal die Stimmung im Volk bezüglich des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr beobachtet, dann - wären wir simpel gesagt nicht dort, wenn es darüber einen Volksentscheid gegeben hätte.
Und würden keinen verfassungswidrigen Angriffskrieg führen, den die Regierung durch fadenscheinige Umbenennung und Umformulierung wie "Stabilisierungseinsatz" oder "nicht internationaler bewaffneter Konflikt" zu legitimieren versucht.
Ach bitte, verarscht werd' ich schon von meiner Freundin genug.
Und einen Verteidigungskrieg würde ich das wirklich nicht nennen.
Womit es für mich verfassungswidrig ist.
Punkt.

Und nicht zuletzt Transparency International und LobbyControl, die beide gegen Korruption und Lobbyismus agieren.
Und wer jetzt denkt, Korruptionsvorwürfe gegen Politiker, die hin und wieder mal in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses rücken, könnten als Einzelfälle abgetan werden, der führe sich bitte einmal zu Gemüte, dass Lobbyismus in Deutschland prinzipiell legal und erwünscht ist (um "Interessensgemeinschaften die Möglichkeit zu geben, auf die Politik Einfluss zu nehmen"... Welche "Interessensgemeinschaften" es sich leisten können, quasi Berufslobbyisten zu unterhalten, das möge sich an dieser Stelle mal jeder selbst denken.) und der Bundestag sogar eine Art Pass für Lobbyisten ausstellt, um ihnen ihre Arbeit noch ein bisschen leichter zu machen.
Es gibt genug Beispiele von sogenannten Volksvertretern, die durch ihre Politik und den Beschluss neuer Gesetze bestimmten Unternehmen lukrative Aufträge im Namen des Staates zugeschanzt haben und nach ihrer politischen Karriere bemerkenswert schnell gut bezahlte Anstellungen in eben diesen Großkonzernen fanden (*hustSchröderhust).
Natürlich nur, weil sie ohnehin so kompetent und für jeden erdenklichen Themenbereich qualifiziert sind. Deshalb wählen wir sie ja, stimmt's?
Genauere gesetzliche Bestimmungen, mehr Transparenz und ein unabhängiges Kontrollgremium, das darauf achtet, dass all das auch so durchgeführt wird, wie es dann in wunderhässlichem Beamtendeutsch schwarz auf weiß gedruckt sein sollte, sind damit die größten Ziele dieser beiden Organisationen.
Immerhin ist die Tatsache, dass HartzIV-Empfänger all ihre Einkünfte genauestens offenlegen müssen (Kontoauszüge als Beweisdokumente vor der Bundesagentur?!), damit sie auch ja ihre lächerlichen paar Kröten von Vater Staat bekommen, während Politiker schwer durchschaubare Nebeneinkünfte beziehen, die Höhe ihrer Diäten samt steuerfreier Kostenpauschale selbst bestimmen dürfen, und - ohne jemals in irgendeine Altersvorsorge eingezahlt zu haben - an ihrem Lebensabend geradezu fürstliche Beträge kassieren, nicht nur eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, nein, es zeigt auch, dass Politiker in punkto Kontrolle zwei Messlatten verwenden - für sich selbst und die oberen Zehntausend, und für den ganzen dreckigen Rest.
Wenn dann der HartzIV-Empfänger immer wieder mal von einzelnen Politikern und den Medien pauschal als Sozialschmarotzer diffamiert wird, zweifle ich doch wirklich manchmal an meinen pazifistischen Idealen.

Das wäre im Prinzip erst einmal das Wesentliche. Auf zwei dieser Organisationen bin ich unabhängig voneinander gestoßen, aber wie ihr seht, arbeiten sie auch oft zusammen, wie zum Beispiel aktuell bei ihrer Kampagne für eine Reform der Parteienfinanzierung.
Wie sehr sich hier jeder, der interessiert ist, engagiert und für welche Organisation und welche Kampagne, bleibt ihm selbst überlassen. Aber die Möglichkeit steht euch frei.
Und natürlich könnt ihr auch weiterhin sagen, "Das bringt doch alles nichts." und was weiß ich, aber hin und wieder dürft ihr mit diesen Vereinen dann doch auch mal nicht gerade unwichtige Erfolge genießen.

Außerdem ist es einfach ungesund, so was in meiner Gegenwart zu sagen.

Aber, um wieder auf meine Einleitung und das Gespräch, das mich zu diesem Eintrag animiert hat, zurückzukommen - nur allabendlich vor dem Fernseher oder in Privatgesprächen zu meckern bringt eben doch so gut wie gar nichts.

Donnerstag, 4. März 2010

Im Lande der Dichter und Denker...

... da wird nicht mehr gedichtet und vor allem nicht mehr gedacht.

Nein, das soll jetzt keine Abhandlung über den erschreckend massiven deutschen Braindrain, die massenhafte Auswanderung unserer Akademiker vor zu Tode gesparter Wissenschaft und Forschung in andere Nationen werden, die mit wesentlich besseren Konditionen locken und uns Handküsse dafür zuwerfen, dass wir einen Großteil ihrer zukünftigen Bildungselite zum Nulltarif ausbilden.
Obwohl das ja auch ein wunderschönes Thema ist.
Erinnert mich jemand daran, mich darüber nochmal irgendwann hier aufzuregen?

Aber nein, vielmehr will ich diesmal von einem Ereignis berichten, dass mich, wie das ja sehr oft so ist, wenn ich mir die Welt um mich herum mal wieder etwas genauer ansehe, doch etwas traurig gestimmt hat. Und außerdem die ultimative wirtschaftliche Wahrheit bestätigt, dass die Nachfrage das Angebot bestimmt.
Was mich in diesem Fall gleich noch trauriger macht.
Nun, ich vermute, nicht allzu viele Leser hier wissen, dass ich mich derzeit mit einem bezahlten Praktikum in einer Buchhandlung vor zu viel Freizeit und Gelegenheit zum Nachdenken bewahre.
Ja, jetzt wisst ihr's.
Jedenfalls begab es sich also vergangenen Freitag, als ich am Feierabend gemütlich vom Laden zu meinem Auto flanierte, dass ich an der Buchhandlung Pustet vorüber kam, in der ich früher immer gekauft habe. Ich muss an dieser Stelle gestehen, auch bei mir hat in den letzten Jahren das Browsen auf amazon das Stöbern im Laden größtenteils ersetzt - ich hatte das Geschäft also seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr betreten.
Wie dem auch sei, ich hatte Feierabend, das Wochenende stand vor der Tür und auf mich wartete nur ein kaputter Computer und eine neoamazonische Rasurfaschistin, daher beschloss ich, mir mal ganz lockerflockig anzusehen, was "die Konkurrenz" so zu bieten hat.
Ich betrat also zielstrebig das für eine Buchhandlung doch sehr große Geschäft und brachte erstmal mit eiligen Schritten die gefühlten zwei Dutzend Regale hinter mich, die unter der Last unzähliger Exemplare Twilight, Harry Potter, der "Biografie" "von" "Bushido" und was weiß ich was sonst noch fast zusammenbrachen. Bis ich den hinteren Bereich erreichte, in dem sich schon deutlich weniger Lebewesen tummelten.
Diejenigen also, die nach Büchern suchten, die nicht mit Postern, Plakaten und menschengroßen roten Papppfeilen für die ganz Blinden angepriesen wurden oder die noch bereit waren, zwanzig Schritte zu gehen, und das Angebot nach dem Werk ihrer Wahl zu durchforsten.
Wie gesagt - deutlich weniger eben.
Da war ich nun also und arbeitete mich langsam, Schritt für Schritt, durch die beschrifteten Sektionen, um mir mal einen Überblick zu verschaffen.

Da hätten wir die beachtlich umfangreiche Abteilung "Kochbücher" mit mehreren wunderschön gestalteten Rezeptauflistern für HartzIV-empfänger, die kulinarische Köstlichkeiten zum Niedrigstpreis anpriesen und dem Leser zum Beispiel empfahlen, in seiner beträchtlichen Freizeit doch einfach mal auf dem Rasen vor der Plattenbauwohnung nach Kräutern zu suchen. Denn wir wissen ja alle, diese Schweine faulenzen sowieso den ganzen Tag auf ihren Luxusyachten, schlürfen teuren Champagner und genießen in "spätrömischer Dekadenz" ihren "anstrengungslosen Wohlstand".
Nur zu fressen können sie sich bei so viel Luxus dann eben nichts mehr leisten. Höchste Zeit also für professionelle Kochbücher.
Demnächst dann übrigens der Nachfolger, Stalingrad-version: Was man aus verwesten Tierkadavern noch alles rausholen kann und wie man welches Körperteil am Menschen am besten zubereiten sollte!
Aber davor müssen wir den Sozialstaat noch ein bisschen abbauen.
Keine Sorge - wir arbeiten schon daran.

Dann wären da noch die Mangas, mit beeindruckender fachlicher Kompetenz einfach kommentarlos in der "Comic"-sektion untergebracht, womit unsere kulturelle Ignoranz wieder einmal absurde Blüten treibt.
Love Hina praktisch direkt neben Asterix und Tim und Struppi?
Oh je.

Außerdem die ausufernde Sektion "Ratgeber/Lebenshilfe", wo einem absolut Unbekannte ohne ersichtliche Bescheinigung ihrer Kompetenz Crashkurse zum Thema "möglichst schnell Glück/Zufriedenheit/Karriere/Geld" anbieten.
Ich frage mich nur, warum es dann heutzutage so viele Arbeitslose und Depressive gibt - Tendenz steigend - wo das Angebot doch so breitgefächert ist.
Oh ja, natürlich, Entschuldigung - weil man dafür zwanzig Schritte gehen müsste.
Aber hey - zumindest dürften die Autoren glücklich und zufrieden sein. Und Geld bekommen sie wohl auch genug!

Die Sektion "Humor" übergehe ich jetzt mal genau so schnell, wie ich daran vorbeigegangen bin, als ich Mario Barths Fratze auf dem Langenscheidt-knieschuss "Frau - Deutsch/Deutsch - Frau" gesehen habe. Übrigens gibt es auch schon "Frau - Deutsch/Deutsch - Frau 2", "Mann - Deutsch, Deutsch - Mann", "Sex - Deutsch, Deutsch - Sex", "Anwalt - Deutsch, Deutsch - Anwalt" und demnächst "Tisch - Deutsch, Deutsch - Tisch".

Über die Sektion "Klassik" schweige ich mich ebenfalls aus.
Gezwungenermaßen.
Wenn's die gibt, hab' ich sie nämlich nicht gefunden.

Aber da! Was ist das! Was sehen meine tränengefüllten Augen! Eine "Philosophie"-sektion! Tatsächlich! Es gibt noch Hoffnung!
Da standen sie also vor mir, die großen Werke jener deutschen und internationalen Denker, die Bücher, die einem bei der Lektüre eine ganz neue Sicht auf sich selbst und die Welt offenbarten, wenn man sich nur auf sie einließ.
"Die Kommunion - Mein Erinnerungsalbum"
Hm?
"Wege zum Glück"
Was zum...?
"Das alte und neue Testament für Kinder"
Bitte?!

Ich dachte einen Moment lang, da hätte jemand was falsch einsortiert. Kann ja durchaus passieren, wenn man auch Love Hina neben Asterix und Tim und Struppi stellt.
Aber nein, es wirkte vielmehr als hätte die Sektion links daneben - "Religion" - eine massive Offensive gestartet und den Philosophiebereich mit jeden Widerstand brechender, unterdrückerischer, hirnloser Gewalt erobert.
Und je länger ich nach Titeln suchte, die man wirklich als philosophische Werke bezeichnen konnte, ohne rot zu werden, desto grausamer wurden die Entdeckungen, die ich machte.
Natürlich gibt ein Eden nicht so schnell auf. Als sich in den Bereichen auf Augen-, Brust-, Magen- und Kniehöhe nichts finden ließ, ging ich trotz meiner berühmt-berüchtigten Faulheit tatsächlich in die Hocke, um mir die unterste Reihe durchzusehen.
IN DIE HOCKE!
SO VERZWEIFELT WAR ICH!

Und ich sollte belohnt werden. Was meine Stimmung nicht zwangsläufig hob.
Da standen sie, ganz unten ganz rechts, gerade noch so reingequetscht, wie es schien.
Fünf kleine Büchlein.
Nietzsches "Also sprach Zarathustra", "Die fröhliche Wissenschaft", und - Entscheidet euch schon mal, ob ihr lachen, weinen oder kotzen wollt. Habt ihr's? Gut, dann weiter. - "Der Antichrist".
Neben Kinderbibeln und Kommunionsalben, die den Geist unserer wehrlosesten Gesellschaftsmitglieder mit platten, billigen Gleichnissen und pseudotiefgründigen Phrasen vergewaltigen sollen.
Wir halten in dieser Zeile einmal kurz inne und stellen uns alle zusammen vor, wie Friedrich Nietzsche in eben diesem Moment in seinem Grab rotiert wie eine CD im Laufwerk.
Das andere war ein kleines... ich sage mal, Prospekt "Schopenhauer für Anfänger". Zwei Mal.
Das war es.
Fünf "Bücher". Drei von Nietzsche und zwei über Schopenhauer.
Philosophie heute.

Kant? Vergiss es.
Hegel? In deinen Träumen.
Kierkegaard? Ist das was zum Essen?
Hobbes? Sartre? Rousseau?
PLATON?!
Nein.

Das war der Moment, an dem ich aufstand und ging. Und zusah, dass ich möglichst schnell zu meinem Auto komme.
Damit mich niemand beim Weinen sieht.

Versteht mich an dieser Stelle nicht falsch.
Wenn hier jemand gerne Twilight liest, sei es ihm gegönnt (solange derjenige bei Robert Pattinsons Anblick nicht die Kontrolle über höhere Denkfunktionen, sein Kreischorgan und seine Blasenfunktion einbüßt - dann jedoch müsst ihr euch gefallen lassen, von mir als herausragende Vollidioten bezeichnet zu werden.), Harry Potter mag ich selbst, so simpel gestrickt es in jeder Beziehung auch sein mag, es hat immerhin dazu beigetragen, viele Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene zum Lesen zu bringen, auch solche, die vorher beim Anblick von gedruckten Worten die Flucht ergriffen hätten, und wer der Meinung ist, die Biografie von Bushido, geschrieben von einem Menschen, der bestimmt von Bushido ordentlich bezahlt worden ist, sei irgendwie interessant - bitte.
Aber muss es nicht wenigstens auch für Leute wie - und ich benutze dieses Wort jetzt mal pauschal, ganz auf eigene Gefahr - "uns" ein Angebot geben, dass unsere Nachfrage befriedigt? Oder sind wir so wenige? So verdammt wenige, dass wir unbemerkt durch das Raster der Marktforschung in die unergründlichen Tiefen der Massenverblödung fallen?
Scheinbar.

Denn glaubt ihr, ich habe irgendetwas von Kafka gefunden?
Habe ich nicht.
Oder denkt ihr, irgendwo hätte Goethes Faust rumgelegen?
Lag er nicht.

Damit nähern wir uns hier ganz langsam und vorsichtig einer Thematik an, die in allerlei intellektuellen Kreisen oder solchen, die sich dafür halten, hinlänglich bekannt ist;
Darf es denn überhaupt sein, dass die wahre literarische Kunst, Werke, die nicht nur handwerklich grandios gemacht sind und die Bezeichnung Kunst allein dadurch verdienen (und nein, eine Charlotte Roche verdient diese Bezeichnung nicht, wenn sie mit modern-geschliffenen vermeintlich Geistigkeit andeutenden Phrasen über alles schwafelt, was die Männerwelt nie wissen wollte - das haben vor ihr schon ganz andere gemacht, nur hatten die wirklich geistige Tiefe und eine Intention abseits von Ekel, Tabubruch und Schockwirkung, deren Fehlen nicht durch einen erzwungen pseudokünstlerischen Schreibstil vertuscht werden musste. Und deswegen keinen Erfolg. Von den ganzen Trittbrettfahren, die ihr Werk auf den Plan gerufen hat, ganz zu schweigen.), sondern die auch eine Botschaft transportieren, zum Nachdenken anregen, (Selbst-)Erkenntnise provozieren und - in unserer Zeit vielleicht wichtiger denn je - kritisieren, von mal mehr, mal weniger platter Unterhaltungsliteratur verdrängt werden, deren Erfolg vornehmlich darauf beruht, den kleinsten gemeinsamen Nenner der Interessen und Bedürfnisse möglichst vieler verschiedener Zielgruppen anzusprechen?
Ja.
Das darf sein.
So grausam es für Leute wie uns auch klingt.
Das darf so sein, ganz einfach, weil es so ist und von der absoluten Mehrheit auch gewüscht wird.
Natürlich kann auch Unterhaltung die oben genannten Aspekte teilweise erfüllen. Und wenn sie dabei noch gut ist, dann ist das doppelt wünschenswert, weil sie ein großes Publikum erreicht.
Aber diese Möglichkeit, diese Verantwortung, wird heute von viel zu vielen vergessen.

Und was wollen wir dagegen tun?
Es ist das gute Recht der Masse, sich auszuschen, was sie will und was sie nicht will.
Das ist ihre Freiheit.
Und wenn sie diese Bücher nun einmal für langweilig, antiquiert und verstaubt halten, dann ist das zunächst so. Zwingen, Interesse für andere Werke abseits dieser Sparte aufzubringen können wir sie nicht.
Das könnte allerhöchstens unser Bildungssystem, und tut es auch in manchen Fällen. Allerdings ist das fast immer ein Schuss ins eigene Knie, dann der Zwang, ein Buch zu lesen, für das man sich nicht interessiert, wird absolut sicher nicht dazu beitragen, ein positives Vorurteil diesem Buch gegenüber aufzubauen. Ganz im Gegenteil.
Aber vielleicht könnte man ja Interesse wecken und fördern, ohne Zwang aufzubauen? Vielleicht liegt es auch daran, dass ein Goethe, ein Kafka oder ein Nietzsche einfach nicht über die gewaltige Medienpräsenz und den aufgeblasenen Propaganda-apparat einer Stephenie Meyer-verfilmung verfügt? Dass er deswegen in der kollektiven Wahrnehmung der Masse einfach untergeht? Weil kaum jemand da ist, der sich noch bemüht, sein Image aufzupolieren? "Nietzsche, der christenfeindliche, Deutsche hassende Außenseiter und Revoluzzer!" - und Millionen Immigranten würden zuschlagen und anfangen, Neonazis verbal mit Zitaten aus seinen Werken zu bashen?
Wobei mich der Gedanke an kreischende weibliche Teenies vor Bücherregalen mit einem großen Nietzsche-portrait darüber auch nicht gerade glücklich macht.

Aber nein. Ich fürchte, es wird dabei bleiben. In zweihundert Jahren wird man dann im Deutschunterricht - falls wir mal ganz optimistisch sind und uns vorstellen, so etwas gibt es zu diesem Zeitpunkt noch - die literarischen Epochen durchgehen, und ab 2000 spricht man dann allgemein vom "modernen Mittelalter der Literatur".

Ich jedenfalls werde mir meine Bücher vermutlch auch weiterhin via Internet bestellen.
Oder allenfalls in dem Buchladen kaufen, in dem ich momentan selbst arbeite.
Da sind die Bereiche "klassische Literatur" und "Philosophie" zwar auch nicht gerade üppig, aber es steht wenigstens drin, was auch drauf steht.

Und hey - immerhin gab es in der Sektion "Bestseller" ja auch solche Bücher wie Michael Jürgs "Seichtgebiete - Warum wir hemmungslos verblöden." und "Die verblödete Republik - Wie uns Medien, Wirtschaft und Politik für dumm verkaufen" von Thomas Wieczorek. Beides Empfehlungen von mir.

Die Hoffnung stirbt also zuletzt.

Aber täuscht euch nicht, wir sehen seit Jahren zu, wie sie langsam und qualvoll krepiert.

Dienstag, 23. Februar 2010

Sonderaktion: Rettet Edens Bart!




DU musst etwas für Freiheit und Gerechtigkeit tun!

Ja, genau du! Du, der du da vor dem Monitor hockst und gerade diese Zeilen liest!
Denn die obenstehende Phantomzeichnung ist nicht etwa ein Fahndungsbild der Polizei (obwohl das in naher Zukunft durchaus denkbar wäre).
Nein, meine Freunde - dieses... ist der Eden.
Und der Eden hat ein großes Problem.
Denn der Eden hat einen Bart. Wie man ja sehen kann.
Das wäre zunächst nicht weiter schlimm, denn Bärte sind ja toll. Man kann sie benutzen, um kleinere Vorräte an Essen darin zu speichern und für Notfälle aufzubewahren, man kann sich nachdenklich darüber streichen, um... naja, nachdenklich zu wirken, man spart effektiv Zeit bei der Rasur, man hält sein Gesicht im Winter warm - die Liste der Vorteile ist unendlich!
Aber leider ist Edens Bart das Thema ständiger Disskusionen. Vor allem mit Edens Freundin, dieser diktatorischen Schabracke, die von seiner Gesichtsbehaarung gewaltig genervt ist und keine Gelegenheit auslässt, ihn darüber zu informieren.
Was zunächst nicht weiter schlimm wäre, weil das in den allermeisten Fällen in einen durchaus amüsanten verbalen Schlagabtausch mündet, der sich herrlich dazu eignet, langweilige Autofahrten und Raucherpausen zu überbrücken.
Allerdings hat sie ihr Waffenarsenal in dieser Beziehung vor Kurzem massiv aufgerüstet und droht jetzt damit, einen nuklearen Sprengkopf an einem strategisch sehr bedeutenden Punkt zu zünden.
Ich weiß, die Metapher ist scheiße und nicht wirklich verständlich. Deshalb zitiere ich den relevanten Ausschnitt des Gesprächs an dieser Stelle einfach mal frei aus dem Gedächtnis:

Des Edens Freundin: "Rasier' dir jetzt endlich den Bart ab!"
Der Eden: "Von mir aus."
Des Edens Freundin: "Was, echt?"
Der Eden: "Wenn die Hölle zufriert."
Des Edens Freundin: "Wenn du dir nicht bald den Bart abrasierst, dann..."
Der Eden: "...ja?"
Des Edens Freundin: "...dann..."
Der Eden: "Was dann?"
Des Edens Freundin: "...dann rasier' ich mich einfach auch nicht mehr!"
Der Eden: "..."
Des Edens Freundin: "..."
Der Eden: "...scheiße."


Seht ihr den Atompilz am Horizont? Das ging genau da hin, wo's weh tut, wie ein verbaler Tritt in die Eier.
Jetzt bin ich zwar durchaus kein Liebhaber von gekünstelter Schönheit und Make-up-schichten so dick wie der Putz an der Häuserwand, aber ich bin auch nicht Naturfreund genug, um bei Frauen auf lange sexy Beine zu stehen, die genau so behaart sind wie meine.
Ihr mögt nun natürlich einwenden, das war doch sowieso bloß ein Witz und das macht sie ja eh nicht, und ich kann diesen Einwand durchaus verstehen.
Aber der beruht auf der Tatsache, dass ihr sie nicht kennt. Glaubt mir, dieses erbarmungslose Monster wird das eiskalt durchziehen, ohne Rücksicht auf eigene Verluste. Meistens finde ich diese Entschlossenheit durchaus gut, aber in diesem expliziten Sachverhalt... wünschte ich mir, ich hätte eine lebensechte Barby ohne Charakter als Freundin.

Ihr seht also mein Dilemma.
Ich brauche Gegenmaßnahmen, ich brauche auch eine Atomwaffe. Ich brauche nukleare Feuerkraft, mit der ich den ganzen scheiß Planeten einäschern könnte, um diesen Kalten Krieg für mich entscheiden zu können.

Und hier ist eure Initiative gefragt!

Wer auch immer mir wirkungsvolle Vorschläge für effektive Kontermöglichkeiten macht, bekommt... nun... die Gewissheit, einem armen Mann geholfen zu haben, der nichts weiter will als die Haare in seinem Gesicht zu retten. Ihr könnt auch Wünsche für Belohnungen äußern - machen wir ein Gewinnspiel daraus! Ein Königreich für den, der Edens Bart vor der Auslöschung bewahrt!
Ich zähle auf euch (und ich hoffe verdammt nochmal, dass ich wenigstens ein oder zwei stille Leser habe, von denen ich nichts weiß und die sich jetzt angesprochen fühlen)!
Ergreift die Initiative! Tretet ein für die Freiheit eines Mannes, sich einen Bart wachsen zu lassen, kämpft gegen die Einflussnahme neoamazonischer Rasurfaschistinnen auf die Individualität und das Recht des Einzelnen, engagiert euch für soziale Gerechtigkeit!

Es liegt an euch.

Rettet Edens Bart!