Samstag, 27. März 2010

Und die Devise heißt: Leben.

Eine kleine Kurzgeschichte, heute Nachmittag in einem ziemlichen Kreativflash entstanden.
Muss ja auch nicht immer alles nur bitterer Zynismus und Kritik sein.

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Langsam fuhr er mit der Hand über die raue, verwitterte Steinfläche, auf der er saß. Lauwarm beschienen von der Sonne, die sich anschickte, endgültig die letzten Reste eines Winters zu vertreiben, der sich viel zu lange angefühlt hatte.
Ewig lange…
Er lächelte.
Früher hätte er den Ausdruck, der sich jetzt auf seinem Gesicht abzeichnete, während er den Kopf in den Nacken legte und die wärmenden Sonnenstrahlen genoss, die ihm durch jede einzelne Pore seiner Haut drangen, nur unterbrochen von einer angenehm kühlen Brise hin und wieder, wohl als bescheuert bezeichnet. Grenzdebil vielleicht. Möglicherweise sogar hirnlos. Ganz sicher unangemessen.
Aber früher hatte er ja so vieles anders gesehen, anders bezeichnet, anders gedacht.
Wenn sein altes Ich ihn jetzt so sehen würde, es würde ihn wahrscheinlich als Verräter beschimpfen… oder ihm einfach nur schreiend dieses grenzdebile Grinsen aus der bescheuerten Fresse schlagen.
Aber er konnte nicht anders – wenn er jetzt an sich herabsah, auf seinen Schoß, in den sie ihren Kopf gebettet hatte, die Augen geschlossen, der Gesichtsausdruck friedlich, fast als würde sie schlafen, dann musste er lächeln.
Alles andere wäre bescheuert gewesen.
Vielleicht auch grenzdebil.
Ja, möglicherweise sogar hirnlos.
Ganz sicher aber unangemessen.
Er veränderte leicht seine Sitzposition, um sich umsehen zu können, was von ihr mit einem schläfrigen Grummeln quittiert wurde, und ließ den Blick über die Umgebung schweifen - die Brüstung der alten steinernen Mauer entlang, auf der sie sich befanden. In einem großzügigen Halbkreis umschloss sie die wenigen alten Parkbänke in ihrer Mitte, sporadisch bevölkert von Menschen, die ähnlich wie sie die ersten Anzeichen des anbrechenden Frühlings genossen. Eine kurze Zeit ließ er sich von dem Gedanken treiben, dass sie alle, ganz egal was sie dachten, woher sie kamen oder wer sie waren, für diesen Moment, für die Dauer ihrer Anwesenheit hier, das gleiche Gefühl genossen, dieses vielleicht illusionäre, vielleicht trügerische, aber absolut wunderschöne Empfinden tiefen Friedens, das für ihn absolut neu war.
In diesem Moment waren sie alle, ganze ohne Blicke, ohne Gesten oder Worte, eine Gemeinschaft.
Nur durch diesen Gedanken.
Er wandte sich wieder um und ließ den Blick über seine übereinander gelegten Füße hinaus auf dem dahin strömenden Fluss auf der anderen Seite der Mauer ruhen, beobachtete die Vögel, die sich singend umkreisten und sich dann sanft auf der Wasseroberfläche niederließen, um sich einfach nur mit dem Strom davon treiben zu lassen.
Früher hätte er sich nicht vorstellen können, dass es mitten in einer Stadt einen Platz wie diesen geben könnte, wo er sich von den wechselnden, sich ständig bewegenden Menschenmengen in seiner Umgebung nicht bedrängt und gestört fühlte. Wo niemand vorbeigehen konnte, ohne wenigstens einen Moment stehen zu bleiben und dieses überwältigende Gefühl zu genießen. Wo er einfach loslassen und sich entspannen konnte.
Früher…
Er fuhr sich nachdenklich durch das zerzauste Haar und ließ seine Gedanken zurück in jene Zeit schweifen, an der er beinahe zerbrochen wäre.
Ja… es war ein langer Winter gewesen.
Endlos lang.
Einen Moment glaubte er fast, sich einzubilden, wie die Welt um ihn herum plötzlich all die berauschenden, bunten, aufblühenden Farben verlor und wieder in einem fahlen Schatten versank, so, wie er sie damals gesehen hatte. Er blickte fröstelnd auf und sah zu, wie eine schneeweiße Wolke gemächlich vor der Sonne vorbeizog und all die Wesen, Menschen genau so wie Tiere und Pflanzen, die nach ihrer wohltuenden Wärme gierten, von ihr abschirmten.
Ja, so war es früher gewesen. Nur Wolken und keine Sonne. Immer nur Wolken.
Eine heuchlerische Gesellschaft, die sich in Arroganz und Ignoranz erging, die sich an ihrer grenzenlosen Dummheit auch noch aufgeilte und vollkommen gleichgültig gegenüber Ungerechtigkeit oder menschlichem Leid geworden war – und sich nach außen hin als freie, tolerante, mitleidvolle Gemeinschaft aufgeklärter Bürger propagierte.
Und das Einzige, was sie dabei am Ende tolerierte, waren nur ihre eigenen gewaltigen, unübersehbaren Makel.
Ja, dachte er, das fasste wohl den Großteil dessen zusammen, was seine Gedankenwelt damals ausgemacht hatte.
Und wieder musste er lächeln.
Wenn er sich jetzt daran erinnerte, dann wunderte es ihn gar nicht mehr, wie gründlich und vollkommen diese Jahre ihn damals zugrunde gerichtet hatten. Ständig war er gegen all das angerannt, was ihm so unglaublich wichtig erschienen war, was seiner Meinung nach einfach nicht sein durfte. Immer und immer wieder mit dem Kopf gegen die Betonwand. Hatte von Idealen geredet, die in seinen Augen tagtäglich im Kleinen wie im Großen verraten wurden.
Und über all das hatte er all die Jahre vergessen, sich umzusehen und die Dinge wahrzunehmen, die in Ordnung waren in dieser Welt.
Mehr als in Ordnung.
Faszinierend. Atemberaubend. Wunderschön.
Er hatte sich am Ende immer konsequenter und erbarmungsloser allem versperrt, was ihm auch nur ansatzweise wieder in Erinnerung hätte rufen können, wofür er all das damals eigentlich hatte tun wollen.
Für eine Welt, die so wunderschön war wie sie sich ihm hier offenbarte.
Und für den Gedanken, dass alle Menschen sie irgendwann so genießen konnten wie er es in diesem Moment tat.
Vermutlich hatte er sich damit letzten Endes über die Jahre vieler Dinge… vieler Erlebnisse und Erfahrungen beraubt. Die Meisten davon vermisste er immer noch nicht und würde es wohl auch nie.
Aber bei einigen – und für einen kurzen Moment wanderten seine Augen zurück zu dem friedlichen Gesicht in seinem Schoß – begriff er erst jetzt langsam, wie sehr sie ihm gefehlt hatten.
Auch wenn er das damals so erfolgreich verdrängt hatte, dass nicht einmal er es wusste.
Also war es falsch? War er ein Verräter an seinen Idealen? War er bescheuert, grenzdebil, hirnlos – verhielt er sich unangemessen?
War es das?
Unangemessen, sich einfach mal die Zeit zu nehmen und Momente wie diesen zu genießen? Obwohl anderenorts Menschen verhungerten? Obwohl es auf dieser Welt so viel Unrecht gab, dass er früher am liebsten schreien und weinen und alles, was ihm unter die Augen kam, ob Gegenstand oder Lebewesen, kurz und klein hätte schlagen können und sich selbst zerreißen, wenn es irgendetwas gebracht hätte?
Konnte so ein Moment überhaupt falsch sein? Konnte es falsch sein, sich zurückzulehnen und die Sonne zu genießen, ihre wärmenden Strahlen, die kühlen Brisen hin und wieder und die Tatsache, dass er zum ersten Mal seit Langem so etwas wie Frieden und Glück empfand?
Er schloss die Augen, als die letzten Wolkenballungen endlich vorüber zogen und die Sonne wieder ihre tastenden, wohltuend streichelnden Finger nach ihnen allen ausstrecke.
Nein.
So etwas konnte nicht falsch sein.
Es durfte nicht falsch sein.
Und wenn Momente und Tage wie dieser auch noch so selten sein mochten – wenn sie kamen, dann musste man sie genießen. Egal wie kurz sie waren oder wie banal sein jetziges Glück ihm früher auch erschienen wäre.
Kämpfen konnte man immer noch.
Man wusste nur wieder, wofür.
Scheiß drauf, dachte er, aber nicht jetzt.
Nicht jetzt.
Das hier gehört mir.
„Scheiß drauf“, sagte er leise, fast unwillkürlich, flüsterte es vor sich hin, wie um es sich selbst noch einmal einzuschärfen.
Er blickte wieder hinab und sah, dass sie die Augen geöffnet hatte.
Sie sah ihn an und lächelte.
Und sie fragte ihn nicht, was er meinte. Das tat sie nie. Sie wusste es einfach. Auch so.
Er schloss die Augen, ließ sich zurücksinken auf das lauwarm beschienene Gestein, verschränkte die Arme hinter dem Kopf -
und lächelte.

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1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Danke sehr an den Webmaster.

Gruss Nelly